- Raumgrenzen: Weltbild und Erfahrung
- Raumgrenzen: Weltbild und ErfahrungBis auf den heutigen Tag ist die Antike ein Bezugspunkt für die Bewertung der eigenen Epoche. Ihre »Wiedergeburt« in der Renaissance ließ ein Gefühl der eigenen Ebenbürtigkeit entstehen, aber erst das Zeitalter des Barock glaubte, sich über die Antike erheben zu können. Dieser Einschnitt hat vor allem mit der Überwindung von Raumgrenzen zu tun, die für die Antike als nicht überschreitbar galten. Wenn es einen Vorgang gab, mit dem das Barock seine Unverwechselbarkeit verband, so war es die Erweiterung des Raums.Nach antiker Vorstellung war der Erdkreis durch zwei Pfosten begrenzt, die nur um den Preis des Lebens zu passieren waren: die Säulen des Herkules. Errichtet am Ende der Welt, symbolisierten sie die Geschlossenheit der bewohnbaren Welt und die Häuslichkeit des denkbaren Wissens. Als Francis Bacon 1620 seinen Entwurf einer umfassenden Erneuerung der Wissenschaft publizierte, hatte sich die Perspektive jedoch verkehrt: Für zwei schwer beladene Galeonen bilden diese Säulen nun Landzeichen für die Rückkehr aus der Weite des Ozeans. Während die Antike das »Nicht weiter« (»nec plus ultra«) verlangt hatte, war nun das »Noch weiter« (»plus ultra«) das Motto - als Raumgewinn, aber auch als Sieg über die Tradition.Die mit der Entdeckung Amerikas einsetzende Erforschung und Inbesitznahme fremder Meere und Kontinente wurde dadurch erleichtert, dass man die Erdoberfläche mit dem Liniengitter der Längen- und Breitengrade überzog, in dem sich die Navigatoren mithilfe des Kompasses zu orientieren vermochten. Im Raster dieses Netzes bewegten sich die Schiffe in einer zweiten, konstruierten, von Inseln und Ländern unabhängigen Raumschale. Es war auch dieser geometrisch erzeugte Kunstraum, der über die Aufteilung der Erde unter den Weltmächten entschied: Seit dem Vertrag von Tordesillas, in dem 1494 alle Territorien östlich einer Demarkationslinie 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln Portugal, alle westlich davon Spanien zugesprochen wurden, durchzogen Linien den Atlantik und den Pazifik, um Grenzen und zukünftige Besitzungen festzulegen, aber auch um die europäische Zivilisation gegen die Bewohner der Neuen Welten abzuschirmen. Als etwa Kardinal Richelieu 1634 verfügte, dass jenseits des Wendekreises des Krebses portugiesische und spanische Schiffe angegriffen werden können, war die Erde in zwei Raumkategorien geteilt: den Geltungsbereich des Rechtes der europäischen Staaten und das Niemandsland der Meere und fremden Kontinente, das zur Inbesitznahme freigegeben wurde.Jenseits dieser Linie wurde das Reich des Naturzustandes angenommen, in dem Kampf auf Leben und Tod herrschte. Als Thomas Hobbes im »Leviathan« 1651 die moderne Staatstheorie begründete, hatte er auch diesen Zustand vor Augen. In Übersee sah er den Wolfscharakter des Menschen, der in Europa zur Zeit von Bürgerkriegen aufbreche, andauernd am Wirken. Gegen dieses Gewaltpotenzial erfand Hobbes das Schreckensbild des Staates, das den allgemeinen Zerstörungstrieb in Schach hält: Erst dieses »Leviathan« genannte Staatswesen erzeuge mit der Konsequenz seiner machtvollen und überlegten Handlungen eine künstlich geschaffene Sicherheits- und Friedenszone.Für Hobbes' Vision könnte neben zahlreichen anderen Anregungsquellen der »Organismus« der Post Pate gestanden haben. Die Post trieb in freie, oftmals feindliche und zumindest ungeordnete Räume gewissermaßen Stollen der Sicherheit, in denen die Zeit beschleunigt und der Raum verkleinert werden konnte. Die Reglementierung der Transporte nach einem stundenweise kontrollierten Postensystem, die lückenlose Errichtung von Posthäusern, die Beschleunigung der Verbindungen und die egalitäre Behandlung von Nutzern der Postkutschen führte dazu, dass sich in Europa zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein neues Maß einbürgerte: die »Post«. Es verband die Distanz von etwa 15 Kilometern mit dem Zeitraum von zwei Stunden und dem Preis der Überwindung der Strecke. Zudem führte die Organisation der Post dazu, dass sich der Raumeindruck je nach der Geschwindigkeit seiner Überbrückung relativierte: Sowie Orte durch die Schnellpost miteinander verbunden wurden - zum Beispiel Hamburg und Augsburg, zwischen denen die Postlaufzeit auf bis zu fünf Tage sank - wuchsen sie im subjektiven Empfinden stark zusammen.Derselbe Vorgang einer mit den Sinnen nachvollziehbaren Raumveränderung vollzog sich in diesem Zeitraum auf eine weitaus spektakulärere Weise auch in vertikaler Hinsicht. Ab 1610 erregten die Erkundungen, die mithilfe des Fernrohres unternommen wurden, ohne dass man sich vom Fleck bewegte, die europäische Öffentlichkeit. Dass Galileo Galilei hierbei den größten Erfolg hatte, lag nicht nur an seinem mathematischen Vermögen, sondern auch an seiner künstlerischen Ausbildung an der Florentiner Kunstakademie. Sowohl in der Perspektive als auch in der Theorie reliefierter Oberflächen geschult, vermochte er die Licht- und Schattenflecken der Mondoberfläche als Gebirge, Ebenen und Täler zu begreifen, als er sein Teleskop am 30. November des Jahres 1609 erstmals auf die Mondoberfläche richtete. Die Vorstellung, dass die Erde als einziger Himmelskörper uneben sei, war hierdurch entkräftet; damit entfiel auch die Hoffnung, dass sie aus ihrer Unvollkommenheit erlöst und den vollendeten Himmelskörpern angepasst werden könne.Als Galilei mit den Jupiter-Monden zudem entdeckte, dass der Himmel auch bislang unbekannte Gestirne barg, bedeutete dies für die Kosmologie eine ebenso große Erschütterung. Schon im 15. Jahrhundert hatte Nikolaus von Kues den Kosmos als endlosen Raum begriffen. 1583/84 hatte Giordano Bruno mit der ihm eigenen Entschiedenheit verkündet, dass der Geist im Kosmos an keine Grenze stoßen könne, weil das Nichts nicht zu denken sei; das unendliche All sei mit endlos vielen Sternen ausgefüllt, sodass es kein Zentrum und keinen Rand aufweise. Weil er möglicherweise das Schicksal des im Jahre 1600 verbrannten »Ketzers« Giordano Bruno vor Augen hatte, äußerte sich Galilei hierzu nicht eindeutig; es lag aber auf der Hand, dass seine Teleskopbilder diese kosmische Raumrevolution bekräftigten.Mit einer Verzögerung von fast 50 Jahren hatten Blicke in die umgekehrte Richtung einen ähnlichen Effekt. Als Robert Hooke 1665 seine »Micrographia« veröffentlichte, die in einer Fülle kostbarer Radierungen Gebilde und Feinstrukturen zeigte, die vor der Erfindung des Mikroskops niemand hatte sehen können, war die Sensation kaum geringer als nach Galileis »Sidereus nuncius« von 1610. Wie die Verbesserung des Fernrohres neue Welträume in Aussicht stellte, so versprachen leistungsstärkere Mikroskope die Erschließung immer kleinerer Mikrowelten. Der schon für Bruno lächerliche Gedanke, dass die Natur auf die Sinne des Menschen hin geschaffen sei, wurde durch Teleskope und Mikroskope nun endgültig verabschiedet.Ein ähnlicher Vorgang vollzog sich in Bezug auf das Vakuum. Als Evangelista Torricelli 1644 in einem mit Quecksilber gefüllten Glasrohr ein Vakuum erzeugte, war bewiesen, dass die Natur leere Räume zuließ. Zwischen der Erzeugung des Vakuums und der Deutung des Weltraums wurde sofort eine Verbindung gezogen. Schon im Jahre 1600 hatte William Gilbert angenommen, dass die Erde ein Magnet sei, der die Luft anziehe, während die Räume zwischen den Planeten luftleer seien. Torricelli konnte präzisieren, dass die Menschen auf der Erdoberfläche wie auf dem Grund eines Luftmeeres leben, das mit seinem Gewicht in alle Richtungen drückt, zum Weltraum hin aber abnimmt und schließlich in Leere übergeht. Dieser Gedanke warf die Frage auf, ob Gott in einem leeren Raum nicht überflüssig sei, denn mit der Materie schien der Stoff entzogen, der in der Schöpfung geschaffen oder gestaltet worden war. Daher suchte man nach einer zwischen den Sternen schwebenden, unsichtbar feinen Materie oder nach dem Äther. Otto von Guericke, der die Erzeugung des Vakuums mithilfe der Luftpumpe vervollkommnete und zu berechnen vermochte, welche Kräfte nötig waren, um leergepumpte Schalen auseinander zuziehen, kam jedoch zu einem anderen Schluss. Er stellte das Nichts nicht als Gegenpol zu Gott vor, sondern als dessen mächtiges Pendant, »dem Himmel gleich, höher als alle Sterne, gewaltig wie des Blitzes Strahl, vollendet und allseits gesegnet. Das Nichts ist aller Weisheit voll«.Raumgrenzen, die gedanklich bereits gestürmt worden waren, wurden durch Schiff und Kutsche, Teleskop, Mikroskop und Luftpumpe vollends niedergerissen. Trotz aller Irritationen wurde dies als ein Triumph empfunden, der es dem Menschen als einem »zweiten Gott« ermöglichte, eigene Welten zu erzeugen, in denen er den verlorenen natürlichen Maßstab dadurch wiedererlangen konnte, dass er die neue Künstlichkeit auf die Spitze trieb. Theater, Kunstkammern, Gärten und Bibliotheken bilden die Räume der Versicherung in einer Zeit, welche die Säulen des Herkules hinter sich gelassen hatte.In London, der Hauptstadt des Schaupiels, gab es zur Zeit Elisabeths I. allein acht große öffentliche Theater, von denen das »Globe Theatre«, zu dem Shakespeare besonders enge Beziehungen hatte, das Bekannteste war. Die amphitheatralische Ordnung der Ränge und die sich nach innen wölbenden Dächer schirmten diese Theater von der Außenwelt ab, die Grenze zwischen Zuschauer- und Bühnenraum wurde durchlässig. Gerade in diesem künstlichen Raum der Welt des Theaters, der eigens zur Schaffung einer zeitlich begrenzten Illusion erbaut war, schien eben diese Künstlichkeit aufgehoben.Als Gegenraum zum Theater boten die im 15. Jahrhundert aus Studierstuben entstandenen Kunstkammern eine museale Zusammenziehung der Geschichte und des Weltkreises: Sie vereinten Gegenstände aus den drei Naturreichen des Mineralischen, Pflanzlichen und Animalischen sowie Antiken, alle Arten von Kunstwerken, Ethnographica und schließlich Modellmaschinen und Instrumente, welche die Sammlungen in lebendige Laboratorien verwandelten. Kunstkammern wie zum Beispiel die Prager Sammlung Kaiser Rudolfs II., in der Tycho Brahe, Johannes Kepler und viele andere Gelehrte arbeiteten, boten den Vorteil der Konzentration von musealen Gegenständen, Instrumenten und Büchern, hatten hierin aber auch den Nachteil des Durcheinanders. Als Gegenpol wurden ihnen die wie mit einem Lineal gezogenen Linien der Gärten gegenübergestellt. Muster all dieser Anlagen war das Schloss von Versailles, das zwischen 1624 und 1710 in mehreren Bauabschnitten errichtet und erweitert wurde. Die zentrale Gartenachse führte schnurgerade in eine Tiefe, die prinzipiell als grenzenlos gedacht war. Alle Straßen und Landschaftslinien fluchteten im Gegenzug auf den Palast zurück, der sich ideell als Kreuzpunkt aller Wege des Landes verstand. In diesem Wechselspiel waren die barocken Gärten der vollkommenste Ausdruck der absolutistischen Herrschaft über den Raum.Bibliotheken blieben ein integraler Bestandteil der Kunstkammern, bis ihre anwachsenden Bestände eigene Anlagen - zum Beispiel die Gebäude der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek oder der Wiener Hofbibliothek - verlangten. Nachdem der Buchdruck das verbreitete Wissen explosionsartig hatte anwachsen lassen, sprengte auch das dokumentierte Wissen den gewohnten Rahmen. Die riesigen Buchpaläste bargen ein Wissen, das nicht mehr durch sich selbst, sondern nur mehr in glanzvollen Repräsentationen seiner Gesamtidee zu erfassen war. Wie um nochmals die Illusion aufleben zu lassen, dass eine Summe des Wissens auf überschaubarem Raum gezogen werden könne, entstanden im 18. Jahrhundert die großen Enzyklopädien.Weil Naturerfahrung und Raumkonstruktion auf unnachahmliche Weise zusammenwirkten, gelang es im Zeitalter des Barock auf allen Ebenen, die bisherigen Raumgrenzen niederzulegen. Seither steht im Horizont allen Handelns und allen Forschens die maßstablose Unendlichkeit. Insofern sich zwar die technischen Mittel, nicht aber die Zielvorstellungen gewandelt haben, hat sich so auch jene Spannung zwischen Triumph- und Ohnmachtsgefühlen tradiert, die im Barock in kaum überbietbare Extreme getrieben wurde.Blaise Pascal, der den Menschen zwischen den Erfahrungsräumen des Teleskops und des Mikroskops, der Weite des Grenzenlosen und dem unendlich Kleinen des Nichts verirrt sah, stellte sich diesen Ausschlägen, um sie zu überwinden. Aus dem Weltall blickend, erkannte er das absolute Schweigen des die Erde umgebenden Raums. Da dieser den Globus mit Leichtigkeit, aber auch ohne jedes Interesse und Bewusstsein zu zermalmen vermag, gewinnt der Mensch, der die Maßstäbe in allen Raum- und Zeitdimensionen verloren hat, eine unverwechselbare Statur zurück: »Unsere Würde besteht also im Denken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.«Prof. Dr. Horst BredekampCassirer, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Leipzig u. a. 1927. Nachdruck Darmstadt 1994.Koyré, Alexandre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Aus dem Englischen. Neuausgabe Frankfurt am Main1980.Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaften. Hamburg 1983.Teichmann, Jürgen: Wandel des Weltbildes. Astronomie, Physik und Meßtechnik in der Kulturgeschichte. Stuttgart u. a. 31996.
Universal-Lexikon. 2012.